Bundesgerichtsentscheide mit noch nicht absehbaren Folgen
Notfall «Notfallpauschalen» - es braucht sofort Rechtssicherheit!
Rechnungsrückweisungen und Rückforderungen im Zusammenhang mit abgerechneten Notfallleistungen – fast täglich lesen wir in den Medien darüber. Praxen droht die Schliessung oder sie haben bereits geschlossen, in Regionen drohen Notfallversorgungsengpässe und Überlastungen von Spitalnotfallstationen. Einzelne Praxen sind mit teilweise riesigen Rückforderungsbeträgen konfrontiert, die ihre Existenz bedrohen.
Was läuft hier schief? Zwei Bundesgerichtsentscheide vom Juni 2024 (Urteil 9C_33/2024 und Urteil 9C_664/2023) zu strittigen Abrechnungen von Notfallpauschalen haben dazu geführt, dass diverse Versicherer grossflächig und rückwirkend über mehrere Jahre bei Praxen Rückforderungen von bereits bezahlten Dringlichkeits- und Notfallinkonvenienz-Pauschalen geltend machen und Rechnungen zurückweisen.
Urteile mit zu hohem Interpretationsspielraum
Was sagen die Bundesgerichtsurteile aus? Eines der beiden hält fest, dass die Behandlung von dringlichen Notfällen kein «Geschäftsmodell» sein dürfe und deshalb während einer publizierten Praxisöffnungszeit – egal ob dies am Abend nach 19 Uhr oder am Wochenende ist – keine Dringlichkeits-Inkonvenienzpauschalen abgerechnet werden dürfen.
Das zweite Bundesgerichtsurteil hält fest, dass diese Notfall-Pauschalen nur von selbständig arbeitenden Ärzt:innen abgerechnet werden dürfen. Alle «fix besoldeten» Fachärzt:innen eines «Instituts» dürften diese Positionen nicht mehr abrechen – selbst dann nicht, wenn eine klinisch eindeutige Notfallsituation vorliegt.
Die vom Bundesgericht vorgenommene Auslegung der Begriffe «Institut» und «fix besoldet» lässt leider sehr viel Interpretationsspielraum. Die beiden konkreten Fälle, die das Gericht zu beurteilen hatte, bezogen sich vor allem auf grössere Institutionen, die sich auf die Versorgung von dringenden Fällen oder Notfällen spezialisiert hatten, mindestens während gewissen Zeiten.
Gefährliche Interpretation der Versicherer
Die Versicherer nehmen die Urteile jetzt aber zum Anlass, auch «klassische» haus- und kinderärztliche Praxen mit angestellten Ärzt:innen ins Visier zu nehmen. Arztpraxen sind heute häufig als GmbH oder AG mit angestellten Ärzt:innen organisiert und leisten damit – ob selbständig oder nicht – sowohl akute Notfallbetreuung der eigenen Patient:innen als auch den von Gesetzes wegen obligatorischen regionalen Notfalldienst. Die seit dem Juni bestehende Rückforderungspraxis von einigen Krankenkassen führt zu grosser Verunsicherung bei Haus- und Kinderärzt:innen.
Die Versicherer sehen für einen Teil der Kosten für die Notfallversorgung auch die Kantone in der Pflicht und wollen mit der aktuellen Rückforderungspraxis auch Druck auf diese ausüben. Dieser Konflikt wird, mit dem teils aggressiven Vorgehen der Krankenkassen, nun ausgerechnet auf dem Buckel der haus- und kinderärztlichen Praxen ausgetragen. mfe ist über die jüngsten Entwicklungen sehr besorgt, da sie einerseits den versorgungsrelevanten und kosteneffizienten hausärztlichen Notfalldienst bedrohen und die sonst schon vielerorts in der Bredouille stehende ärztliche Grundversorgung weiter kompromittiert.
mfe fordert deshalb:
- Haus- und Kinderärzt:innen brauchen dringend Rechtssicherheit. Die Regeln zur Abrechnung von Dringlichkeits- und Notfallpauschalen müssen eindeutig, transparent und ohne Interpretationsspielraum formuliert sein.
- Rahmenbedingungen können nur für die Zukunft und nicht rückwirkend definiert werden. mfe fordert, dass die Praxen so schnell wie möglich wieder wissen, was unter der neuen Interpretation zu erwarten ist und wie sie abzurechnen haben.
- Grundversorgerpraxen dürfen nicht als «Institut» und ihre Ärzt:innen nicht als «fix besoldet» eingestuft werden. Sie müssen von Rückforderungen und Rückweisungen von Notfallpauschalen verschont bleiben.
- Der versorgungsrelevante Notfalldienst darf für Haus- und Kinderärzt:innen nicht noch unattraktiver werden. Dies wäre ein grosser Nachteil bei der Gewinnung von dringend benötigtem haus- und kinderärztlichem Nachwuchs.
- TARDOC muss ab 1.1.2026 die Realität der Notfallversorgung widerspiegeln. Gesellschaft, Notfallversorgung und Patientenverhalten haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Permanencen und Notfallpraxen stellen wichtige Kapazitäten und decken teilweise auch den gesetzlichen Notfalldienst mit ab; sie sind deutlich kosteneffizienter als der Spitalnotfall.
Bereits sind intensive Gespräche mit und unter den relevanten Partnern, wie FMH, Versicherern, sowie Kantonen, GDK und BAG im Gang, um für Haus- und Kinderärztinnen möglichst schnell wieder verlässliche Rahmenbedingungen sicherzustellen. Mit dem Ziel, für die Tarifreform per 1.1.26 Rechtssicherheit zu schaffen mit Tarifen und Interpretationen, die der Versorgungsrealität entsprechen.
mfe-UMFRAGE
Eine Mitgliederumfrage von mfe zeigt das Ausmass und die Verunsicherung der Haus- und Kinderärzt:innen. Der hohe Rücklauf (728 Teilnehmende, ca. 20% der mfe Mitglieder) zeigt, wie brisant und relevant das Thema ist. Hier sind die wichtigsten Erkenntnisse:
Rückforderungen betreffend Dringlichkeits- und Notfallinkonvenienzpauschale
Rund 7 % der teilnehmenden Praxen sind aktuell von Rückforderungen betroffen (EP=Einzelpraxis, GP=Gruppenpraxis).
Rechnungsrückweisungen betreffend Dringlichkeits- und Notfallinkonvenienzpauschale
6 % der teilnehmenden Praxen sind aktuell von Rechnungsrückweisungen betroffen (EP=Einzelpraxis, GP=Gruppenpraxis), wobei etwas mehr als die Hälfte aller Rückweisungen die Notfallinkonvenzienpauschalen A und B betreffen.
Rückforderungssumme nach Praxen
Hier sind die kleinen Gruppenpraxen mit 2-4 Ärzt:innen am stärksten von den Rückforderungen betroffen.
Bei dieser Praxisgrösse kann davon ausgegangen werden, dass eine Rückforderungssumme von 67'353 CHF einen substanziellen Teil des Umsatzes ausmacht und somit existenzkritisch für diese Praxen sein dürfte.