Immer mehr, immer schneller, immer günstiger
Hat die Politik etwas falsch verstanden?
Mit Hochdruck und reichlich Populismus diskutieren Medien und Politik die steigenden Gesundheitskosten. Dabei verkennen sie, dass die Kosten vor allem steigen, weil immer mehr älterwerdende Menschen von immer besseren medizinischen Leistungen profitieren und dass teuer bezahlen wird, wer bei der Hausarztmedizin sparen will.
Die Medizin, aber vor allem die Patientinnen und Patienten profitieren von immer besserer Technik, die erst noch immer günstiger zur Verfügung gestellt werden kann. Medizin ist zum Beispiel ohne Computertomographie heute nicht mehr denkbar. Die Fortschritte in der Medizin, nicht nur die technischen, sind enorm. Der Industrie gelingt es dank Globalisierung, Automatisierung und Produktion rund um die Uhr, ihre Erzeugnisse immer günstiger herzustellen, nicht zuletzt dank Produktion im Ausland unter zum Teil zweifelhaften Bedingungen. Immer mehr, immer schneller, immer günstiger.
Immer schneller - auf Kosten des Patienten?
Uns Haus- und Kinderärztinnen gelingt sowas nicht. Ja, es kann gar nicht gelingen. Wir können die Effizienz nur durch zunehmende Erfahrung steigern, denn wir können nicht schneller zuhören. Wir können nicht viel schneller untersuchen, nicht schneller sprechen und auch nur bedingt schneller denken. Hausarztmedizin braucht vor allem etwas: Zeit. Tendenziell immer mehr davon, weil die Ansprüche wachsen und die Fragestellungen komplizierter, die Herausforderungen komplexer werden.
Per Dekret die für den Austausch mit den Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehende Zeit verkürzen zu wollen, ist keine gute Idee. Derlei Massnahmen, die salopp als Limitationen im Tarif daherkommen, laufen dem zuwider, was die Hausarztmedizin ausmacht und was sie so gut macht: Probleme erkennen, im Gespräch, durch Untersuchungen, komplexe gesundheitliche Störungen richtig einordnen und die richtigen Schlüsse ziehen. Dafür braucht es Zeit, Zeit mit den Patientinnen und Patienten, Zeit für intellektuelle Leistung, für Empathie. Aber auch Zeit für die Koordination mit Angehörigen, Behörden, Spitälern, Spezialisten. Dass es sich lohnt, diese Zeit zu investieren, sehen wir, wenn wir die Kostenentwicklung in den Praxen der Haus- und Kinderärzte mit der Entwicklung der Gesundheitskosten insgesamt in Vergleich setzen.
Immer günstiger - auf Kosten der Grundversorgung?
Hausärztinnen und Kinderärzten den Lohn kürzen zu wollen, ist wahrscheinlich ebenfalls keine gute Idee. Vielen von uns könnte das zwar egal sein, nämlich all denjenigen, die kurz vor der Pension stehen oder das Pensionsalter schon überschritten haben. Das sind sehr viele, wie wir wissen. Für alle anderen wäre eine Lohnkürzung – wie sie im Parlament diskutiert und vom Bundesrat im Rahmen der Tardoc-Verhandlungen gefordert wird – nicht nur ein Affront, sondern ein katastrophales Signal für die Sicherung der medizinischen Grundversorgung und an den – noch immer spärlichen – hausärztlichen Nachwuchs.
„Selbstbedienungsladen“ ist so ein populistisches Schlagwort, mit dem Medien und Politik jüngst gerne auf die Ärzteschaft zielen, wenn es um Kosten im Gesundheitswesen geht. Haben sie etwas falsch verstanden? Alles, was wir aktuell sehen und in unseren Praxen erleben, ist, dass die Ärzteschaft und vor allem die Hausärztinnen und Kinderärzte den Bedarf an Leistungen gar nicht bewältigen und den Patientinnen und Patienten nicht schnell gerecht werden können. Das Gesundheitswesen, ein Selbstbedienungsladen? Vielleicht sollten die, die das leichtfertig behaupten, einfach mal mit einem Kinderarzt reden oder mit Pflegenden in einem Spital oder mit einer Psychiaterin.
Was aber richtig ist: Die Medizin ist gewissermassen das Opfer ihres eigenen Erfolges. Immer bessere diagnostische und therapeutische Möglichkeiten erfordern ein immer aufwändigeres Suchen nach behandelbaren Ursachen von gesundheitlichen Problemen. Wenn keines gefunden wird, muss weitergesucht werden. Und ist die Ursache gefunden, muss schnellstmöglich die bestmögliche Therapie bereitstehen. Die Medizin bietet hier so viele Möglichkeiten. Wer hat den Mut, den Patientinnen oder Patienten zu sagen, dass sie davon leider nicht profitieren dürfen?
All das kostet etwas, und es kostet jedes Jahr mehr. Weil jedes Jahr mehr älterwerdende Menschen mehr Leistungen beanspruchen. Wen mag das erstaunen? Das Angebot ist gross und äusserst günstig, beziehungsweise: von den Konsumentinnen und Konsumenten über die Prämien oder über Steuern zum grössten Teil bezahlt. Es kann also niemandem verübelt werden, wenn er vom rund um die Uhr zur Verfügung stehenden Angebot und den immer neuen Chancen der Medizin Gebrauch macht. Den Konsumentinnen und Konsumenten ein immer besseres Angebot zu versprechen und gleichzeitig jenen Raffgier vorzuwerfen, die ihnen dieses anbieten, ist reichlich unverfroren. Das Problem mit einer verordneten Preisreduktion des Angebots bekämpfen zu wollen, ist reichlich naiv, Leistungen rationieren zu wollen, ist ethisch bedenklich. Und politisch ansprechen und gar verantworten will das sicher niemand.
Immer mehr - wer setzt die Grenzen?
Es wäre aber an der Zeit, dass die Politik Verantwortung übernimmt und sich der Diskussion stellt, statt mit den nächsten Wahlen im Hinterkopf Nebelpetarden zu zünden und Verantwortung einseitig an die abzuschieben, die jeden Tag in der Praxis für Patientinnen und Patienten das medizinisch Möglichste machen für ihre Gesundheit. Wenn die Politik das Leistungsangebot beschränken will, so muss sie gegenüber der Bevölkerung Klartext reden. Wenn sie Löhne kürzen will, soll sie das ebenfalls deklarieren. Beides wird vorhersehbare und nicht überraschende Folgen haben. Die Verantwortung dafür abzuschieben, ist feige.