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Online-Magazin von mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz

Lesedauer ca. 7 Min.

Von wegen Abzocke

Wie unterschiedlich die Wahrnehmung doch ist

Von wegen Abzocke

Die Art und Weise, mit der Medien und Politik Ärztinnen und Ärzte behandeln und über sie reden, gibt zu denken. Vor allem, wenn man von früh morgens bis spät abends in der Praxis alles unternimmt, um teure Spitalnotfälle zu verhindern. Schaden nimmt vor allem die dringend nötige Nachwuchsförderung, denn: Wer will schon Abzocker werden von Beruf.

Ein Freitag im Juni, ein schöner Sommerabend, Gartenrestaurants und Badis sind voll, die Praxis ist leer. Ich erledige Papierkram. Anmeldungen, Zeugnisse, Rezepte, Berichte. Selbstverständlich schaue ich mir auch noch die Schülerin an, die kurz zuvor vom Baum gefallen ist und über Kopfschmerzen und Übelkeit klagt. Ich nähe die Wunde an ihrer Stirn, nachdem ich die Wirkung der anästhesierenden Spritze abgewartet habe. Die Familie ist dankbar, weil sie den Abend nicht auf der Notfallstation verbringen muss. Die Krankenkasse müsste es auch sein, weil ich für sie mit Extraeinsatz und Übernahme von Verantwortung viel Geld gespart habe, wie jeden Tag. Sie wird es aber gar nicht realisieren. Dafür wird mich tarifsuisse, das Kostenkontrollorgan der Krankenversicherer, belangen und mir Überarztung vorwerfen, wenn ich zu oft für solche Notfälle zur Verfügung stehe. Gemäss ihrer Berechnungsmethode ist das, was ich mache, nicht wirtschaftlich. Wirtschaftlich ist nämlich nicht unbedingt, wer das, was er tut, effizient und kostgengünstig macht, sondern wer gar nichts tut.

Volle Agenden - und doch ist ein Termin möglich

Unsere Agenden sind voll. Trotzdem behandeln wir Notfälle, Dringendes und unnötige Zuweisungen durch die Telefontriagestellen der Versicherer, halt zwischendurch oder in der Mittagspause oder nach der offiziellen Sprechstunde. Dieser Aufwand rechnet sich kaum, wir leisten ihn für unsere Patientinnen und Patienten. Damit steigt der Stresspegel, bei uns und beim Personal. Die Ansprüche der Patientinnen und Patienten wachsen. Termine zu finden ist schwierig. Unsere medizinischen Praxisassistentinnen müssen sich einiges anhören, wenn der Wunschtermin nicht angeboten werden kann. Noch schlimmer, wenn sie neue Patienten, die auf der Suche nach einer Kinderärztin sind, abweisen müssen. Wir wissen es und die Patienten merken es: Es gibt viel zu wenig Haus- und Kinderärztinnen, auch wenn die Krankenkassen und Behörden dies bestreiten. Die Politik will es nicht hören und beschliesst derweil Höchstzahlen für Ärztinnen und Ärzte. Absurd. Zur Mangellage hingegen schweigt sie. Und wenn ich wegen ebendieser Mangellage weit mehr als vorgesehen arbeite, wird mir tarifsuisse das wiederum vorwerfen.

Nicht vergütet - und doch engagieren wir uns

Wir bilden uns regelmässig fort, weit mehr als vorgeschrieben, selbstverständlich aus dem eigenen Portemonnaie berappt, halten uns so gut es geht à jour und sind uns bewusst, dass die Hälfte unseres Wissens in drei Jahren veraltet ist. Trotzdem müssen wir uns von Journalisten und Politikerinnen sagen lassen, wie wir arbeiten, dokumentieren und unsere Qualität zu belegen haben. Wir werden zum Betreiben eines elektronischen Patientendossiers gezwungen, obwohl es hinten und vorne nicht funktioniert, in der aktuellen Form nutzlos ist, nichts als ein Ärgernis und Mehraufwand.

Wir engagieren uns im Unterricht von Studierenden und jungen Ärztinnen und Ärzten, wir stellen zusätzliche Arbeitszeit zur Verfügung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, machen Abstriche statt Mittagspause, nehmen am Sonntag an Impfprogrammen teil, lassen uns mit mageren Entschädigungen dafür abspeisen. Derweil investieren die Kantone Millionen in neue Impfzentren. Wir unterstützen unsinnige kantonale Impfprogramme, die wiederum ohne Nutzen die Kantone weitere Millionen kosten. Wir stellen zusätzliche Praxisassistentinnen ein, damit sie die besorgte Bevölkerung am Telefon über Corona, Affenpocken und Fledermaus-Tollwut informieren können. Einen Tarif oder Geld für deren so wertvolle Arbeit gibt es nach wie vor nicht.

Fehlende Tarifanpassungen, negative Presse - und doch arbeiteten wir weiter

Seit Jahren arbeiten wir an einem neuen Tarif, wie vom Bundesrat, von der Finanzkontrolle, ja mittlerweile von allen mit Nachdruck gefordert. Nun realisieren wir, dass der Einsatz für Tardoc wohl vergebens war. Den ständig neuen Spielregeln des Bundesamtes für Gesundheit und des Departements des Innern werden wir nie genügen können. Gehör geschenkt wird stattdessen santésuisse, obwohl dieser Krankenkassenverband seit Jahren ausser Obstruktion nichts anzubieten hat. Und zu guter Letzt will die nationalrätliche Gesundheitskommission die kooperativen Tarifpartner, die sich mit Tardoc längst auf einen neuen Tarif geeinigt haben, auch noch mit Tarifkürzungen unter Druck setzen – auf dass sie sich endlich mit jenen einigen, die seit Jahren nicht mal an den Tisch sitzen wollen.

Gewiss, mit einem Medianlohn von 160'000 Franken leben wir komfortabel. Immerhin erwirtschaften wir ihn mit einer überdurchschnittlichen Arbeitszeit, mit Nacht- und Sonntagsarbeit, mit grosser Verantwortung in einem nicht risikolosen Umfeld und erwirken gleichzeitig einen gesellschaftlichen und systemrelevanten Mehrwert. Der Tarif dafür ist seit mehr als 20 Jahren eingefroren, während die Unkosten stetig steigen, ebenso die Ansprüche an uns. Unser Einkommen sinkt  kontinuierlich. Keine andere Berufsgruppe muss sich das bieten lassen.

Und dann lesen wir in den Medien nicht nur die ewig gleiche Leier von zu viel verdienenden Ärzten, sondern sind mit geradezu dreisten und diffamierenden Anwürfen konfrontiert. Von „Abzockern“ ist die Rede, und sogar im Parlament müssen wir uns als schamlos bereichernde Spezies im Selbstbedienungsladen beschimpfen lassen. Ich kann mich darüber ärgern oder die Diffamierungen an mir abprallen lassen. Für den ohnehin spärlichen haus- und kinderärztlichen Nachwuchs sind sie Gift und für die langfristige Versorgung der Bevölkerung katastrophal. Wer will schon „schamloser Abzocker“ werden von Beruf.

Es ist spät - und doch ist noch nicht alles erledigt

Unterdessen ist es dunkel geworden, das Nachtessen kalt. Längst habe ich nicht alles erledigt, was zu erledigen gewesen wäre. Soll ich jetzt den Säugling mit Atemschwierigkeiten noch anschauen? Seine Mutter wäre sehr dankbar, möglicherweise kann ich den beiden ja eine Nacht auf der Notfallstation ersparen. Mach ich selbstverständlich, sofort, in hoher Qualität, in wenig Zeit, für die Krankenkasse sehr günstig, auch wenn ich was dabei verdiene. Mein später Einsatz schadet aber gleichzeitig meiner Wirtschaftlichkeitsstatistik: zu viele Notfallkonsultationen, zu viel Nachtarbeit. Das fällt auf. In Zukunft werde ich mit solchen Leistungen auch die vom Bundesrat vorgesehenen Zielvorgaben überschreiten und so für eine Tarifsenkung im nächsten Jahr mitverantwortlich sein. Wie ich das verhindern könnte? Indem ich Mutter und Kind an den teuren Notfall im Spital verweise.

Ich hoffe auf eine ruhige Nacht, freue mich auf morgen Samstag, ein neuer Arbeitstag. Voll interessanter und herausfordernder Begegnungen. Ich kümmere mich, tue Nützliches und Gutes und übernehme Verantwortung. Ich helfe und erhalte dafür Anerkennung. Wenigstens von meinen Patientinnen und Patienten und ihren Familien.