Bürokratischer Alptraum
Höchst umstrittene Höchstzahlen
Während der Hausärztemangel in aller Munde ist, müssen die Kantone Grundlagen erlassen zur Bestimmung und Steuerung von Höchstzahlen für Ärzt:innen im ambulanten Bereich. Der Widerstand dagegen ist gross, die Vollzugsprobleme sind es auch – das Beste wäre wohl eine Rückabwicklung der Bestimmung, die für viele Haus- und Kinderärzt:innen vor allem etwas bringt: noch mehr Bürokratie.
Die Kantone sollten eigentlich per 1. Juli 2023 Höchstzahlen für Ärzt:innen festlegen, mit einer grosszügigen Übergangsfrist von zwei Jahren. Sobald die errechneten Höchstzahlen erreicht sind, so die Idee, sollten die Kantone die Zulassung von neuen Ärzt:innen beschränken bzw. stoppen. So verlangt es der vor zwei Jahren in Kraft gesetzte Art. 55a KVG zur «Beschränkung der Anzahl Ärzte und Ärztinnen, die im ambulanten Bereich Leistungen erbringen».
Es waren seinerzeit die Kantone, die den Bundesgesetzgeber dringend baten, ihnen mit Blick auf die Kosten- und Prämienentwicklung ein wirksames Instrument zur besseren Versorgungssteuerung in die Hand zu geben. Nun zeigt sich ironischerweise: Ebendiese Kantone tun sich bei der Umsetzung besonders schwer. Einige Kantone unternehmen vorderhand nichts zum Vollzug der bundesrechtlichen Vorgaben. Andere sind vorangegangen und wurden, wie Basel, von einem Gericht zurückgepfiffen. Es fehle die gesetzliche Grundlage, urteilte das Gericht. Und im Kanton Bern soll die Zulassungsverordnung am 1. Januar 2024 in Kraft treten. Hier zeigt sich exemplarisch, wie grundsätzlich schwierig die Umsetzung ist – und wie gross der Widerstand dagegen. Allein die Methoden und Datengrundlage für die Bemessung von Versorgungsbedarf und Höchstzahlen nach Regionen scheinen unzureichend und höchst umstritten.
Politik fernab der Realität
Derweil ist das Hauptproblem, mit dem sich die Gesundheitsversorgung in der Schweiz konfrontiert sieht, ja beim besten Willen nicht, dass es zu viele Ärzt:innen gibt. Genau das Gegenteil ist der Fall, ganz besonders im Bereich der Hausarztmedizin, aber längst nicht nur hier. Die Daten hierzu sind hinlänglich bekannt, die Folgen immer mehr spürbar. Das Bundesamt für Statistik veröffentlichte gerade erst Zahlen zur Versorgung im Bereich der haus- und kinderärztlichen Grundversorgung: Über die ganze Schweiz gesehen kommen auf 1'000 Einwohner:innen 0.8 Ärzt:innen, auf dem Land sind es 0.4 Ärzt:innen pro 1'000 Personen. Ausreichend wäre ein Koeffizient von 1/1000. Vor diesem Hintergrund eine Versorgungssteuerung einzurichten, die sich an Höchstzahlen orientiert, zielt an der Realität vorbei und wirkt reichlich aus der Zeit gefallen. Wenn schon, bräuchte es Mindestzahlen mit Instrumenten und Massnahmen gegen Unterversorgung. Noch besser wären positive Anreize.
Folgen wirken lange nach
Kommt dazu: Die Weiterbildung von Fachärzt:innen dauert nach Abschluss des Medizinstudiums fünf bis 15 Jahre. Die Steuerung der ärztlichen Versorgung ist allein deshalb gänzlich ungeeignet für eine Politik nach dem Motto «stop&go». Bis zur Niederlassung in der Praxis vergehen viele Jahre. Starre Mechanismen zur Berechnung von Versorgungsgraden und Höchstzahlen werden der langen Latenz in der Aus- und Weiterbildung von jungen Ärzt:innen nicht gerecht. Ein Zulassungsstopp hat überdies unerwünschte psychologische Vorwirkung, die die Berufswahl und die Wahl von ärztlichen Fachrichtungen durch die Studierenden stark beeinflusst. Die Folgen lassen sich zwar nur schwer abschätzen, aber: Eine Korrektur von unerwünschten Effekten dauert angesichts der langen Aus- und Weiterbildungszeiten viele Jahre bis Jahrzehnte.
Bürokratisches Unding
Personalmutationen, Ein- und Austritte in die Praxis, Anpassungen von Pensen, Mutterschaftsurlaube, längere Abwesenheiten müssen alle dem Gesundheitsamt gemeldet werden. So war es zum Beispiel im Entwurf für eine Zulassungsverordnung für den Kanton Bern vorgesehen. Ein bürokratisches Unding für alle Seiten, für die Praxen, aber auch für die Behörden, und ohne jeden Nachweis für bessere Qualität oder Nutzen für die Patient:innen. Ausgerechnet auch die Haus- und Kinderärzt:innen, die weder heute noch in naher und ferner Zukunft mit einer Überversorgung konfrontiert sein werden und seit Jahren unter der wachsenden Bürokratisierung ihres Berufs leiden, sollten noch einmal laufend Daten liefern. Kostenlos und unter Androhung von Sanktionen bei Nichtbefolgung. In Zeiten des Fachkräftemangels macht es einfach keinen Sinn, unterdotierten Fachgebieten bürokratische Auflagen zu machen, nur damit nachgewiesen werden kann, dass keine Überversorgung vorliegt. Solche Regulierungen laufen allen Bemühungen zuwider, den Beruf der Haus- und Kinderärzt:in attraktiv zu machen. Wir wissen, auch aus Studien, dass der administrative Aufwand so stark zugenommen hat in den letzten Jahren, dass er mittlerweile von sehr vielen Ärzt:innen als grosse Belastung wahrgenommen wird. Und ja: Er frisst in den ohnehin stark belasteten Praxen Zeit, die am Ende für die Arbeit mit den Patient:innen fehlt.
Korrekturen im neuen Parlament?
Eine rigorose Kontrolle und die Durchsetzung von Höchstzahlen muten im Kontext der (teils starken) Unterversorgung geradezu grotesk an. Dass Haus- und Kinderärzt:innen, deren zeitlichen Ressourcen knapp sind, in einigen Kantonen auch noch mit administrativen Zusatzaufwänden belastet werden, ist, mit Verlaub, absurd. Das neue Parlament täte also gut daran, sich noch einmal mit Art. 55a KVG zu befassen. Am einfachsten wäre wohl eine Rückabwicklung der unsinnigen Bestimmung oder mindestens eine weitreichende Korrektur der Verordnung, so dass sicher nicht auch noch jene Fachbereiche mit noch mehr Bürokratie und Ungewissheit belastet werden, die noch viele Jahre daran leiden werden, dass sie zu wenige sind und sicher nicht zu viele. Einen Anfang machte der Walliser Ständerat Beat Rieder (die Mitte) mit einer Interpellation in der vergangenen Sommersession. Darin bezeichnet er die «gut gemeinte Verordnung» als «juristische und gesundheitspolitische Farce». Er verlangt vom Bundesrat unter anderem Auskunft darüber, wie er sich «diese fehlerhafte Verordnung» erkläre, die die Kantone «vor schwer lösbare Probleme» stellt. Insbesondere kritisiert Rieder in seiner verhältnismässig scharf formulierten Begründung die ungenügende Methode und Datenlage. Die Antwort des Bundesrats lässt nicht erwarten, dass Nachbesserungen vorgenommen werden. Gefordert wäre also wohl das neue Parlament.