Fokus
Wie grün sind wir?
«Grüne Welle», «Frischer Wind», «Öko-Erdrutsch»: Die Schlagzeilen am 21. Oktober, dem Montag nach den Nationalratswahlen, sprachen Bände. «Historisch»: Nie zuvor war ein so konservatives Land wie die Schweiz derart vom «grünen» Fieber gepackt worden. Das beste Beispiel lieferte der Kanton Wallis, bisher eher bekannt für die Umwandlung von Wiesen in Betonlandschaften als für seine ökologische Einstellung. Dort wurde erstmals ein grüner Nationalrat gewählt, sogar ganz ohne intensive Kampagne. Klimaschutz verpflichtet ...
Ist das nur eine vorübergehende Euphorie aufgrund der massenhaften Medienberichte über den Klimawandel? Oder politischer Opportunismus, begünstigt durch eine beispiellose Mobilisierung der Jugend? Ein Thunberg-Effekt? Die Erkenntnis der Dringlichkeit, in puncto Klimaschutz endlich zu handeln? Wahrscheinlich von allem etwas. Doch wie geht es nun weiter?
Natürlich feilen jetzt alle Parteien an ihrer Strategie für die kommende Legislaturperiode. Wie können die vielen schönen Wahlkampfversprechen in Sachen Umweltschutz umgesetzt werden? Soll eine Grüne in den Bundesrat gewählt werden? Vielleicht ist dies der beste Weg, dringend erforderliche Massnahmen durch die übliche Schweizer Konsensdemokratie abzuwürgen. Oder müssen wir die Chance eines grüneren, jüngeren und weiblicheren Parlaments ergreifen, das eine andere Politik verfolgt – eine Politik, die vielleicht als einzige die Menschheit noch retten kann?
Ein grünes 4-Punkte-Programm wagen?
Wie beispielsweise V.E.R.T.
V wie Vérité, die Wahrheit, die jeder hören kann und verstehen muss: Der Klimawandel ist nicht «Fake News». Er ist keine Falschmeldung, die von chinesischen Verschwörern in die Welt gesetzt wurde, um die Grundfesten des amerikanischen Systems zu erschüttern. «Hört auf die Wissenschaftler», sagen uns die Klimaschützer zu Recht immer wieder. Die Experten des IPCC (1) sind sich in allen ihren Berichten zweifelsfrei darüber einig, dass wir Menschen durch unser Verhalten die Ressourcen des Planeten plündern, zum Artensterben beitragen und einen Klimawandel auslösen, der unsere Lebensweise, unsere Gesundheit und letztlich sogar unser Überleben gefährdet.
E wie Ecologie, Ökologie, natürlich. Allerdings eine Ökologie, die über den Schutz von Robbenbabys hinausgeht und mehr ist als eine Anti-Atomkraft-Bewegung in Birkenstock-Sandalen: Eine Ökologie, die ein besseres Gleichgewicht von Mensch und Natur anstrebt, weil sie weiss, wie lebenswichtig die Natur mit ihren Schätzen und ihrer Vielfalt für uns ist. Eine Ökologie auch, die sich nach innen richtet und uns hilft, uns durch Rückbesinnung persönlich, in unseren Beziehungen, als Gesellschaft, kulturell und sogar spirituell weiterzuentwickeln.
R wie Reform. Unerlässlich! Wie kann man eigentlich in einer begrenzten Welt, die unsere Erde nun mal ist, an die Möglichkeit unbeschränkten Wachstums glauben? Dennoch wird uns genau dieses Wachstumsmärchen immer wieder in jedem Wahlkampf aufgetischt: Der Markt soll es regeln, wir brauchen keine Vorschriften, die neuen Technologien werden uns retten. Illusionen… Aber ist ein Wirtschaftssystem ohne Wachstum überhaupt denkbar? Ja, sagt Tim Jackson in seinem Buch Prosperity without growth (2) und stellt uns ein Wohlstandsmodell vor, das auf anderen Werten als Geld basiert. Ohne Materialismus, massvoll und dennoch glücklich (3), weil das Glück des Seins die Gier nach Besitz ablöst.
T wie Transition, Wandel. Um den Gelbwesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, müssen wir diesen Wandel jedoch lenken, sodass er möglichst reibungslos verläuft und niemand auf der Strecke bleibt. Wir müssen das soziale Kapital stärken, in das Gemeinwesen investieren, Ungleichheit bekämpfen, Arbeitszeitmodelle überdenken, unsere Finanzmittel klüger einsetzen. Ein enormes Programm, das sich nur mit Engagement auf allen Ebenen umsetzen lässt. Eine stärkere Lenkung durch den Staat erscheint unausweichlich, damit Obergrenzen für Emissionen und den Ressourcenverbrauch, beispielsweise durch eine CO2-Steuer, durchgesetzt werden können; dank progressiver Steuern wird der Reichtum gerechter verteilt; damit Investitionen in erneuerbare Energien, den öffentlichen Verkehr oder die Modernisierung von Gebäuden angeregt und gefördert werden.
Welche Rolle spielt die Medizin?
Der Staat alleine wird es jedoch nicht richten. Wir alle sind aufgefordert zu handeln. Wie der Kolibri von Rabhi (3) müssen auch wir dazu beitragen, das an allen Ecken ausbrechende Feuer zu löschen.
Und haben wir Ärztinnen und Ärzte nicht sogar noch eine weiter reichende Verantwortung? Können wir uns damit zufriedengeben, nur Vorbilder zu sein? Oder müssen wir nicht auch aktiv darauf hinwirken, dass unsere Patientinnen und Patienten ihr ökologisches Verhalten ändern? Angesichts des Vertrauens, das die Bevölkerung in uns setzt und der zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit (4) haben wir sicher eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Denken wir nur einmal daran, dass aufgrund der Klimaerwärmung bereits jetzt jedes Jahr Millionen von Menschen vorzeitig an Herz-, Lungen- oder Infektionskrankheiten sterben und auch die psychischen Erkrankungen stark zunehmen (4). Können wir dem einfach so zuschauen?
In jüngster Zeit häufen sich die Warnungen von Angehörigen der Gesundheitsberufe, vor allem in der angelsächsischen Fachpresse. Richard Horton, Chefredakteur von Lancet, einer der angesehensten medizinischen Fachzeitschriften, sprach sich sogar jüngst in einem Leitartikel für die friedliche, aber relativ radikale Bewegung Extinction Rebellion (5) aus.
Und in der Schweiz? Wo bleibt der flammende Artikel des Präsidenten unseres Berufsverbands FMH? Wann wird die Ärzteschaft von einem nationalen Aktionsprogramm aufgerufen, sich in ihrem Beruf dezidiert gegen die Klimaerwärmung zu engagieren? Natürlich gibt es in der Schweiz die Ärztinnen und Ärzte für den Umweltschutz (www.aefu.ch), aber das ist ein kleiner Kreis.
Inzwischen kommen die Initiativen, wie so oft in unserem Land, von der Peripherie: Nach dem Vorbild der Abteilung Allgemein- und Familienmedizin in Lausanne, die demnächst eine soeben abgeschlossene Studie über die Auswirkungen von Schweizer Arztpraxen auf die Umwelt veröffentlicht. Darin sollen auch Empfehlungen zur Verringerung dieser Auswirkungen ausgesprochen werden.
Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ein junges Mädchen schickt sich an, Gandhi zu widerlegen: Hier wächst ein Wald heran, dessen Rauschen nicht mehr zu überhören sein wird ... sofern er nicht zugrunde geht.
Wir alle sind grün ... oder wir gehen zugrunde.
1. Berichte des IPCC, www.ipcc.ch
2. Prosperity without growth, Tim Jackson, 2. Auflage 2017
3. Vers la sobriété heureuse, Pierre Rabhi, Actes Sud 2013
4. www.lancetcountdown.org
5. Extinction or Rebellion? The Lancet, Band 394, 5. Oktober 2019
Standpunkte ab 2020 digital
Ab 2020 wird unser Newsletter «Standpunkte» in digitaler Form erscheinen. mfe Haus- und Kinderärzte Schweiz hat das klare Zeichen der Bevölkerung zum Umweltschutz ernst genommen und wird deshalb künftig auf Druck und Postversand des Newsletter verzichten. Wir werden eine leserfreundliche Onlineversion von »Standpunkte” erarbeiten und freuen uns, Sie im nächsten Jahr ressourcenschonend über die wichtigsten Themen rund um die medizinische Grundversorgung zu informieren.