Interview
Die Zukunft der Kinderarztmedizin
Interview mit Heidi Zinggeler Fuhrer, Vizepräsidentin von mfe und Kinderärztin im Medizinischen Zentrum gleis d in Chur.
Welches Resultat aus der aktuellen Studie hat Sie am meisten überrascht?
Vieles ist mir natürlich vertraut aus meiner täglichen Praxis – ich bin ja am Puls des Geschehens. Was für mich hingegen tatsächlich überraschend war, ist der doch recht hohe Anteil an teilzeitarbeitenden Männern in der Hausarztmedizin und dass mit 2/3 die Frauen bei den Kinderärzten überwiegen.
Und welches Resultat hat Sie am meisten gefreut oder alarmiert?
Alarmierend finde ich nach wie vor die Überalterung der Hausärzte. Es kann nicht im Sinne der Gesundheitspolitik sein, dass Hausärzte insbesondere auf dem Land bis über 70 und länger arbeiten müssen, weil keine Nachfolge in Sicht ist. Bei uns Kinderärztinnen ist das weniger akut, ausser auf dem Land, wo es generell weniger Kinderärzte gibt. Gefreut hat mich, dass die stundenmässige Arbeitsbelastung doch kontinuierlich abnimmt.
Das Modell der Gruppenpraxis, in dem Sie selbst arbeiten, ist ungebrochen beliebt. Welcher Aspekt ist dabei für Sie selbst ausschlaggebend?
Die Gruppenpraxen haben sowohl für die Patientinnen als auch für die Ärzte zahlreiche Vorteile. Die Patienten haben immer einen Ansprechpartner, erweiterte Öffnungszeiten können einfacher angeboten werden da die Arbeitslast auf verschiedene Schultern verteilt ist, Wartezeiten sind kürzer und die interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit ist in einer Gruppenpraxis ein gelebtes Modell.
Bei den Kinderärzten sind Frauen, bei den Hausärzten die Männer in der Überzahl. Wird sich daran kurz- und mittelfristig etwas ändern?
Bei den diesjährigen StudienbeginnerInnen in der Humanmedizin sind die Frauen in der Überzahl. Schon daraus abgeleitet rechne ich mit mehr Haus- und Kinderärztinnen in der Zukunft. Diese Entwicklung nahm bereits vor 30 Jahren seinen Anfang als neu 50% der Medizinstudierenden Frauen waren und heute mit dem etablierten hohen Frauenanteil bei den Kinderärzten und der stetigen Zunahme der Hausärztinnen ersichtlich ist. Die Möglichkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren, erhöht die Attraktivität des Berufes für beide Geschlechter weiter und entspricht dem Bedürfnis der besseren Work-Life-Balance der jungen Generation. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Geschlechterverteilung deshalb in beiden Fachrichtungen zukünftig ausgeglichener sein wird. Gleichzeitig bin ich aber der Meinung, dass es keine Rolle spielt für die Patientinnen und Patienten, ob ihr Arzt bzw. ihre Ärztin eine Frau oder ein Mann ist. Kompetenz und Vertrauen sind massgebender. Aus der Warte der Patienten hingegen, insbesondere der Jugendlichen, besteht öfters das Bedürfnis der gleichgeschlechtlichen Betreuung. Gut, wenn diese Möglichkeit auch in Zukunft besteht.
Wie können Medizinstudierende für die Haus- und Kinderarztmedizin begeistert werden?
Hier ist schon viel passiert in den vergangenen Jahren. Auch der Bundesrat hat die Bedeutung der Grundversorger für das Gesundheitswesen in der Schweiz erkannt und mehr Studienplätze und Gelder für Praktikumsplätze und Forschung gesprochen. Die Institute für Hausarztmedizin leisten wichtige Arbeit für den hausärztlichen Nachwuchs und die Steigerung der Attraktivität für den Beruf. Bereits 20% der Staatsexamensabgänger interessieren sich für eine Karriere als Grundversorger. Tendenz steigend. Das lässt hoffen. Die Schweiz muss aber noch mehr Ärztinnen und Ärzte ausbilden. Die Praxisassistenzprogramme der Kantone müssen zwingend weitergeführt werden. Nur was man kennt, kann man lieben lernen. So ist es auch mit der Praxistätigkeit.
Wo sehen Sie den grössten Beitrag der Kinderarztmedizin in der Grundversorgung?
Ganz klar in der Prävention. In der Studie «Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen» aus dem Jahr 2012 konnte aufgezeigt werden, wie vorteilhaft frühkindliche Vorsorgeuntersuchungen sind. Dank gezielter Beratung kann die Erziehungskompetenz der Eltern nachweislich verbessert und ein auffälliger Entwicklungsverlauf frühzeitig erkannt werden, was effektive Frühinterventionen ermöglicht. Das Fazit: Weniger Notfallkonsultationen, weniger Übergewicht, besseres Schlafverhalten, bessere Sprachkompetenz etc. und in der Folge nachweislich tiefere Kosten für das Gesundheitswesen.
Was denken Sie, wird die Schlagzeile der nächsten Workforce-Studie in 5 Jahren sein?
Freuen würde mich eine Schlagzeile wie: «Medizinstudierende wollen unbedingt in die Haus- und Kinderarztmedizin», weil dies auch nach 20 Jahren Berufstätigkeit die interessantesten, abwechslungsreichsten und vielfältigsten Arztberufe sind und trotz viel Verantwortung eine sehr gute Work-Life-Balance ermöglichen.