Regionales
Tagebuch eines am Corona-Virus erkrankten Hausarztes. Wieder gesund. Und doch kein ganzes Happy-End.
Ende Februar hatte ich Gelegenheit, am 17. Clinical Microsystem Festival der Universität Jönköping in Schweden teilzunehmen. Das Besondere an diesem interprofessionellen Kongress: Unter den Teilnehmern sind auch Patientinnen und Patienten – sozusagen als «living library».
Jedem Seminar ist ein Patient zugeordnet, der sich aktiv beteiligt und alle möglichen Fragen beantwortet. Hier steht der Patient wirklich im Mittelpunkt! Dazu kommen: Viele Berichte – einige davon erschütternd – und ein sehr herzlicher Empfang. Und jede Menge Kreativität; überall an den Wänden, sogar auf den Spiegeln in den Waschräumen, stehen Zitate – teils ausgedachte, teils von berühmten Persönlichkeiten. Der Kopf ist ständig beschäftigt ... «If your compassion does not include yourself, it is incomplete» (Buddha).
Und hier kommt meine Geschichte. Am 14. März, einem Samstag, gehe ich in den Tea-Room der Bäckerei La Fontaine in Aubonne, um Zeitung zu lesen. Ein Freund gesellt sich zu mir. «Hast du Husten?» fragt er mich. «Nein, nein ... Alles in Ordnung.» Mir war der Husten auch aufgefallen, aber ich hatte ihn nicht weiter beachtet. Strahlender Sonnenschein und ideale Schneebedingungen im Jura animieren mich zu einer Langlauf-Tour im Gebiet von Amburnex. Herrlich!
Am Abend bin ich vollkommen erledigt und falle nur noch ins Bett, ohne Abendessen. Ich gehe in Quarantäne. Am Sonntagmorgen huste ich leicht, habe aber kein Fieber. Ich denke, das ist nur ein «Durchhänger», und gehe wieder in den Tiefschnee. Diesmal kehre ich aber schon nach 20 Minuten um – total schlapp! Zu Hause messe ich die Körpertemperatur – Fieber, 38°, dazu Kopfschmerzen, Schwindel und dieses Schwächegefühl. Ich gehe zum Notarzt: Niemand da – ausser mir! Zwanzig Minuten später bin ich wieder draussen und beruhigt: Sättigung 96%, kardiopulmonale Auskultation o. B., Abstriche genommen. «Sie gehen in Quarantäne.» «Jawohl, Herr Doktor.» Gehorchen kann ja so guttun! Jedenfalls bin ich total KO. Ich bestelle meine Patienten für Montag ab und lasse mir mein Essen ins Gästezimmer bringen.
24 Stunden später ruft mich die Leiterin des Spitals an: «Der Abstrich ist positiv.» Meine Familie muss jetzt auch in Quarantäne. Glücklicherweise gehört niemand von ihnen zu einer Risikogruppe. Allerdings habe ich am 13. an der Trauerfeier der Tante meiner Frau teilgenommen und am 12. an der Vorstandssitzung von mfe. Ich habe vielleicht meine 96-jährige Schwiegermutter angesteckt, die die beste Pizza der Welt backt, oder gar Philippe, den Präsidenten von mfe! Glücklicherweise hatten wir die Abstandsregeln beachtet.
Ich füge mich geduldig in mein Schicksal, finde die Kraft für ein wenig Gartenarbeit und schleiche mich am Abend heimlich ins Büro, um meine Mails zu lesen. Mein Speichel ist merkwürdig, manchmal zäh, dann wieder schaumig. «Was habe ich mir da bloss eingefangen?!» Am 8. Tag kehre ich mit dem Auto von einer Stippvisite ins Büro zurück. Auf dem kurzen Weg zum Haus weht ein kalter Wind. Plötzlich klappern mir die Zähne und ich zittere am ganzen Körper. Was ist das denn jetzt? Schnell wieder ins Bett, ohne Essen, wie am ersten Tag. Ich habe erneut 38° Fieber. Haben die Experten im Radio nicht gesagt, dass «die Komplikationen meistens nach 7–10 Tagen auftreten»? Ich sehe mich schon auf der Intensivstation – intubiert und auf dem Bauch liegend – und sage zu meiner Frau, dass sie im Notfall die 144 anrufen soll. Aber wird es nicht manchmal wieder schlimmer, bevor die Genesung einsetzt? Das Fieber steigt nicht weiter, ich schlafe gut in dieser Nacht. Das war ein Fieberrückfall, sozusagen «der zweite Höcker des Kamels». Ich beschliesse, die nächsten zwei Tage nicht in meine Mailbox zu schauen, und es geht mir schon viel besser!
Ich fange wieder an zu arbeiten. Ich habe viel Zeit; die Praxis ist nur halb so voll wie sonst. Ich rufe meine Risikopatienten an, um zu hören, wie es ihnen geht, ob sie die Empfehlungen des BAG verstanden haben, ob jemand für sie einkauft, ob sie ihre Therapie fortsetzen. Ich versichere ihnen, dass die Praxis geöffnet ist, dass sie kommen können, dass sie ruhig an der frischen Luft spazieren gehen sollen, um sich etwas Gutes zu tun, und wir sprechen über das, was sie erlebt haben. Ich mache mit beim Programm «Primäre Prävention», das ein Kollege aus dem Vorstand der Hausärzte Waadt, Dr. Jean-Pierre Vez de Chavornay, lanciert hat und das in unserem Kanton sehr erfolgreich war: 800 Ärzte haben sich beteiligt und jeweils zwischen 100 und 150 ihrer Patienten angerufen! Es tut gut, von sich aus aktiv zu werden, und die Patienten sind wirklich froh! Zusammen mit der Société Vaudoise de Médecine verteilen wir die Unterlagen an unsere Mitglieder. Es gibt sogar Video-Clips.
Video
Covid-19 Préventions: Le téléphone
Covid-19 Préventions: Le Rappel
Covid-19 Préventions: La Visite
Covid-19 Préventions: Le bon réflexe
Covid-19 Préventions: Home
Covid-19 Préventions: La Cena
Unterdessen steigt die Zahl der Toten im Kanton auf über 400. Das ist ein Viertel aller Todesfälle in der Schweiz, während unser Anteil an der Gesamtbevölkerung nur 10% beträgt. Besonders stark betroffen sind die Alters- und Pflegeheime, einige sind richtige Hotspots. Dazu muss man wissen, dass in den Kantonen nicht nur die positiv getesteten Personen gezählt werden, sondern auch die Verdachtsfälle. Viele Menschen sterben auch zu Hause, weil sie in ihrer Patientenverfügung bestimmt haben, dass sie nicht ins Spital und schon gar nicht auf die Intensivstation verlegt werden wollen. Palliativmedizinische Programme werden eingeführt. Die Intensivstationen sind vorbereitet, ein Kollege wird ins Spital eingeliefert und intubiert. Mein Sohn, der in einem Hotel am Empfang arbeitet und in der Stadt wohnt, erkrankt. Er hat einen ganzen Tag lang Fieber, dann ist alles wieder gut. Meinem Schwager (62) geht es nicht gut: Kurzatmigkeit. Er sucht seinen Kardiologen auf, weil er vor zwei Jahren einen STEMI hatte: kein Problem. Drei Tage später rät ihm sein Hausarzt, in Quarantäne zu gehen. Fünf Tage später besuchen wir ihn, weil wir am Telefon den Eindruck haben, dass er kaum noch Luft bekommt. Sauerstoffsättigung 89%, niedriger Blutdruck, Herzrhythmusstörungen. Wir können ihn schliesslich überzeugen, sich testen zu lassen. Er kommt ins Spital, weil die Sauerstoffsättigung weiter abgenommen hat und sein CT für eine COVID-19-Pneumonie typisch ist. Da er Schmerzen in der Wade hat, wird auch ein MRT gemacht. Ergebnis: Lungenembolie! Gerade erst hat man herausgefunden, dass das eine typische Komplikation bei COVID-19 ist. Der Nasenabstrich ist zweimal negativ.
Für alle diese Menschen und für meine betroffenen Patienten geht die Sache gut aus.
Diese Zeit hat uns daran erinnert, dass die Gesellschaft auch solidarisch gegenüber Risikogruppen sein kann, dass wir einander nicht gleichgültig sind, dass wir unsere Familie und Freunde brauchen und ihnen das auch immer wieder sagen sollten.
Der Lockdown wurde aufgehoben. Aber ich bin traurig. Mein Freund Olivier ist mit 56 Jahren gestorben, vermutlich an einem Herzinfarkt. Olivier Bugnon war Apotheker, Universitätsprofessor in Lausanne und in Genf sowie Co-Direktor des Département des policliniques am Unisanté. Eine Koryphäe der Interprofessionalität. Und der freundlichste Mensch, den ich je kannte. Olivier, du fehlst mir. Ich fühle mit deiner Familie.