Regionales
Hausärztin und Freiwillige an der COVID-19-Front – So ein Covid-Tag im Leben einer Hausärztin
Auch wenn diese Pandemie für einige Menschen tragisch war, muss ich gestehen, dass ich sie als Atempause in einem übervollen Terminkalender empfunden habe – als eine Übung in Kreativität, Solidarität und Wohlwollen und als eine Lehrzeit.
Atempause ...
Unser Praxisteam hat hart gearbeitet, während die Zahl der Praxisbesucher wie Butter in der Sonne schmolz. Ich habe, wie so viele, vom «slow down» profitiert. Entschleunigen. Sich die Zeit nehmen, einmal nichts zu tun. Der Stille lauschen. Die Natur beobachten.
Ich habe tolle Dinge entdeckt. Einmal, als ich früher nach Hause kam, habe ich entzückt ein Blaumeisenpaar entdeckt, das gerade sein Nest in unserem alten Springbrunnen baute, während zwei übermütige, neugierige Eichhörnchen unsere alte Tanne zu ihrem neuen Wohnsitz erkoren. Es gibt also noch ein Leben ausserhalb von COVID-19 und der Angst vor Krankheit und Tod!
Kreativität …
Unser Team hat sich täglich neu erfunden. In erster Linie, um all die Mails zu lesen, zu verstehen und umzusetzen, die von den vielen verschiedenen politischen Instanzen und Fachgremien verschickt wurden. Und die sich alle irgendwie glichen und doch nie gleich waren. Komplexe Anweisungen mussten in eine Sprache übersetzt werden, die auch für die durch Horrormeldungen in der Presse verunsicherten Patientinnen und Patienten verständlich war. Wir mussten die richtigen Worte finden, um die Menschen zu beruhigen, durften dabei aber nicht die Risiken verschweigen, die diese hoch ansteckende Krankheit birgt, die wir ja selbst gerade erst kennen lernten.
Wir haben unsere gesamte verfügbare Kreativität aufgeboten, um Tipps für die jungen Eltern zu finden, die bei der Rundum-Betreuung ihrer manchmal schwierigen und kaum zu bändigenden Kleinkinder kurz davor waren, die Nerven zu verlieren. Wir haben TV-Programme nach Gymnastikkursen für die ganze Familie durchforstet. Oder anderen Patienten Yoga vorgeschlagen. Den Grosseltern haben wir empfohlen, sich das Warten auf bessere Zeiten mit Stricken oder Marmeladekochen zu verkürzen. Oder die «gesunde» Küche auszuprobieren, mit regionalen und ökologisch angebauten Produkten. Eine anstrengende Aufgabe, aber auch ein gutes Beispiel für eine Medizin, die den Menschen ins Zentrum stellt. Oder bei welcher der Mensch manchmal sogar einen Schritt voraus ist ... Und das alles neben den üblichen Notfällen. Denn nur, weil COVID-19 grassiert, hören die Menschen ja nicht plötzlich auf zu stürzen, Gallenkoliken zu bekommen oder an Nesselfieber zu erkranken. Meine Fotogalerie ist inzwischen ein echtes Horrorkabinett: Wunden, Beulen, Pickel aller Art. Denn wenn man nichts berühren darf, muss man es wenigstens anschauen, um es heilen zu können!
Wir mussten auch Mittel und Wege finden, um unsere älteren Patientinnen und Patienten – zum Teil krank, beunruhigt, isoliert – zu begleiten, die uns sagten, dass es weniger schlimm sei, an COVID-19 zu sterben als an Kummer und Einsamkeit. Wir haben hunderte Telefonate geführt und immer wieder neue Worte gefunden, um die Menschen zu beruhigen und die Fakten zu relativieren.
Lehrzeit ...
Ich habe in den letzten drei Monaten mehr gelernt als sonst in zehn Jahren! In meiner 30-jährigen Berufspraxis habe ich zum ersten Mal verschiedene audiovisuelle Plattformen für die Sprechstunde, für Ausschusssitzungen, Interviews und die Veranstaltung von Kursen per Videokonferenz genutzt. Anfangs zwar manchmal ohne Ton oder ohne Bild ... aber inzwischen bin ich «audiovisuell» fit! Ich habe mich sogar zu einem echten Profi in Sachen Fernkommunikation entwickelt!
Solidarität ...
Angesichts des erwarteten Ausmasses der Pandemie hat unser kantonaler Berufsverband Freiwillige gesucht, die sich um die Patientinnen und Patienten in den Testzentren kümmern. Im Notfall einspringen: eine Selbstverständlichkeit. Unser Team, das aus vier Ärzten, vielen Bürgern, Angehörigen der freiwilligen Feuerwehr, ehrenamtlich arbeitenden Studierenden und zwei speziell für die Tests ausgebildeten Pflegeteams bestand, führte anfangs 120 bis 150 Untersuchungen durch. Wir mussten sehr sparsam mit den verfügbaren Masken (eine pro Tag) und Desinfektionsmitteln umgehen. Im Zelt pfiff entweder ein kalter Wind oder man schmorte in der Sonne, aber der ungewöhnliche Arbeitsplatz ermöglichte auch schöne Begegnungen und echtes interprofessionelles Arbeiten. Wir haben uns gegenseitig unterstützt und bei den manchmal doch schwierigen Fällen geholfen. Vor allem haben wir uns alle nützlich gefühlt, weil wir die Kollegen in den Spitälern unterstützt und Erkrankte betreut haben.
Wohlwollen ...
Alle Patientinnen und Patienten, die ich im Testzentrum untersucht und anschliessend alle zwei Tage angerufen habe, waren sehr dankbar für die Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wurde. Auch unsere eigenen Patientinnen und Patienten waren froh über die Anrufe und die proaktiven Massnahmen, mit denen wir sie – ob erkrankt oder gesund – durch diese Zeit begleitet haben.
Fazit
«Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.» Nietzsche
Ich wünsche uns allen, dass wir durch COVID-19 stärker werden – indem wir Solidarität, Kreativität und Respekt leben.